Über die Macht des Inneren Kritikers

In Beratungen begegnet er mir häufig. Viele Menschen schlagen sich mit einem moppeligen inneren Kritiker herum, der es ihnen schwer macht zu tun, was sie möchten, in der Welt zu strahlen und den Widrigkeiten des Lebens gelassen zu begegnen… Denn sie haben einen inneren Gesellen dabei, der sie innerlich nicht gut dastehen lässt, sie bei Schwierigkeiten nicht unterstützt und ihnen bei Kritik in den Rücken fällt.

Menschen, die wahrlich Grund hätten, selbstbewusst zu sein, zerfleischen sich selbst. Andere hingegen – denken wir z.B. an einen Donald Trump – die wirklich gut beraten wären, mehr Selbstkritik an den Tag zu legen, tun dies leider nicht. Welch ein Ungleichgewicht.

Es gibt mehrere Gründe, die einen starken inneren Kritiker entstehen lassen

Manche Menschen wurden in ihrer Kindheit und Jugend von wichtigen Bezugspersonen massiv kritisiert. Kinder sind auf Zustimmung angewiesen. Kinder ringen darum von ihren Bezugspersonen geliebt und gewollt zu sein. Sie brauchen dies zu ihrem physischen wie psychischen Überleben. Wenn sie viel und streng kritisiert werden, wandert die Kritik in sie hinein und wird Teil ihrer eigenen Seele. Kinder sind gut beraten, den Versuch zu unternehmen, die Regeln um sie herum zu verstehen: Was bringt Kritik und was Lob ein? Die Gebote der sie umgebenden Systeme zu kennen und zu beachten, sich vielleicht sogar mit ihnen zu identifizieren und sie zu verinnerlichen, bedeutet im besten Fall, äußerer Kritik zu entgehen. Ein strenger innerer Regelwächter entsteht.

Bei manchen Menschen hilft nicht mal das, um sich Anerkennung zu sichern. Denn, wer z.B. mit traumatisierten Bezugspersonen oder süchtigen Menschen aufwächst, erlebt häufig, dass sich kein berechenbares Regel-System erkennen lässt. Die Kritik ist nicht kohärent und in sich sinnhaft, sondern von den Launen und Befindlichkeiten der Menschen abhängig. So ist es nicht möglich, einen sicheren Raum zu definieren. Kritik lauert überall. Was einen Tag in Ordnung war, kann am nächsten Tag falsch sein. Was an einem Tag kritisiert wurde, bleibt am nächsten unkommentiert.

In solchen Konstellationen lernen Menschen, innerlich wachsam zu sein und sich selbst mit lauerndem Misstrauen zu begegnen, was an ihren Eigenschaften und ihrem Tun bei anderen Kritik auslösen könnte. Bevor andere sie kritisieren könnten, tun sie dies schon mal selbst. Sie erschaffen einen Wächter in sich, der helfen soll, die Zustimmung ihrer Umgebung zu sichern. Dieser Wächter erkundet dauernd, wie ihr Umfeld auf sie reagiert. Beim leisesten Anzeichen, dass jemand unzufrieden sein könnte, fährt er sein Arsenal hoch und führt eigene Versäumnisse und vermeintliche Fehler an. Kommt wirklich Kritik von außen, ist er sofort bereit, diese zu glauben – auch wenn es andere innere Stimmen gibt, die die Kritik ungerecht finden. Der Feind lebt nun im eigenen Haus, stets an der eigenen Seite. In bester Absicht, aber leider ziemlich unbekömmlich.

Ein solcher Begleiter kann sich jedoch auch bei Menschen ausbilden, die in einem liebevollen Umfeld aufgewachsen sind. Sie haben nicht Kritik gespürt, die sich auf sie persönlich bezog, sondern z.B. Kritik, die ihren Bezugspersonen galt und die diese in sich trugen, oder Kritik, die ihren Bezugsgruppen galt. Wenn Eltern oder wichtige Bezugspersonen selbst klein gemacht wurden oder zu diskriminierten, nicht gewürdigten gesellschaftlichen Gruppen gehörten, dann spüren dies viele Kinder und tragen die Themen der Menschen, die sie umgeben und die sie lieben, von denen sie abhängig sind, innerlich mit.

Das können individuelle Erfahrungen sein, die sich transgenerational zeigen, z.B. eine uneheliche Geburt, Ausgrenzungserfahrungen, eine schlechte Position im Familiengefüge usw. Das können auch Erfahrungen sein, die Menschen im Kollektiv gemacht haben: Wenn Mütter und Großmütter z.B. sexuelle Gewalt erfahren haben, nicht lernen durften, keinen Zugang zu Geld hatten usw. Wenn Menschen aufgrund ihres Migrationshintergrunds in der Aufnahmegesellschaft keinen guten Platz erhalten haben, wenn Menschen aus Arbeiterfamilien, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, einer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung diskreditiert wurden. Das Miterleben zu einem diskriminierten Kollektiv zu gehören, kann tief verwurzelte Inferioritäts-Gefühle hervorbringen.

Besonders „gefährdet“ sind Kinder, bei denen mehrere Themen akkumuliert sind, aber auch solche, die besonders klug und sensibel auf ihr Umfeld reagieren. Die Forschung sagt, dass z.B. hochsensible, hochbegabte Kinder zu innerer Selbstkritik tendieren, da sie sich viele Gedanken über ihre Umgebung machen und versuchen, Dingen Sinn abzugewinnen. Sie beobachten ihr Umfeld und fühlen sich evtl. stark verantwortlich für die Menschen um sie herum. Ein differenziertes Denken führt dazu, dass sie spüren, dass sie nicht sämtlichen Ansprüchen gerecht werden können. Auch nicht ihren eigenen.

Warum schaffen Menschen diesen inneren Kritiker nicht einfach ab, der ihnen doch das Leben so schwer macht und der übers Ziel hinausschießt?

Menschen mit einem starken inneren Kritiker haben nicht gelernt, eine gute Unterscheidung zwischen berechtigter und überzogener Kritik zu ziehen. Wichtige Lebensäußerungen wurden nicht angemessen bewertet, individuell und/oder gesellschaftlich. Es fehlte Rückendeckung. Entweder wurde ihnen nicht Recht gegeben oder ihre guten Gründe wurden nicht beachtet. Und Kinder spüren auch, wenn dieses Schicksal wichtigen Bezugspersonen widerfahren ist.

Diskriminierungserfahrungen sind tief verwurzelt im eigenen Selbstbild und unterminieren Erfolge. Oder sie führen zu unrealistisch hohen Leistungsansprüchen an sich selbst, die niemand erfüllen kann.

Wer nicht lernt, sich selbst Recht zu geben bzw zu differenzieren, dass man zwar irgendetwas hätten besser machen können, aber dennoch gute eigene Gründe hatte, hat Kritik nichts entgegenzusetzen. Denn die eigenen Maßstäbe sind verschwommen und ver-rückt. Weg von einem guten Standpunkt, vielleicht gegen die eigenen Interessen – hin zu überzogener Selbstkritik. Die sicherste Strategie scheint zu sein: Im Versuch, endlich in Ordnung zu sein, das Umfeld daraufhin abzuscannen, wo Gefahren lauern, wo Kritik kommen könnte, was in einer bestimmten Umgebung falsch sein könnte. Frei nach dem Motto: Wenn ich kritisch mit mir bin, laufe ich nicht Gefahr, dass andere mich mit vernichtender Kritik überraschen in einem Moment, wo ich mich in Ordnung gefühlt habe. Ich kann versuchen, die Regeln zu verstehen, wie ich hier „richtig“ sein kann.

Wer sich mit einem moppeligen inneren Kritiker abmüht, muss daher oft erst mühsam lernen, auf der eigenen Seite zu sein, nicht mit der Kritik der anderen gemeinsame Sache gegen sich selbst zu machen – ja sogar vermeintliche, befürchtete, prognostizierte Kritik zum eigenen Ratgeber zu machen.

Wie können wir Menschen unterstützen, die sich mit einem machtvollen inneren Kritiker herumschlagen?

Meiner Erfahrung nach braucht es bei Klient*innen ein Nachlernen auf vielen Ebenen:

  • Hilfreich ist, dass Ihr als Beratende ein Gegengewicht zu den inneren Stimmen schafft, die so machtvoll für eine Verurteilung plädieren. Indem Ihr wohlwollend und ressourcenorientiert schaut, zeigt Ihr, dass eine andere Perspektive möglich und angemessen ist.
  • Es kann spannend sein, dem inneren Kritiker ein Gesicht und eine Stimme zu geben, ihn zu malen, ihn durch Puppen oder im Rahmen einer Skulptur zu visualisieren. Alles, was Klient*innen verdeutlicht, dass der innere Kritiker nur ein innerer Anteil ist, kann hilfreich sein.
  • Fragen danach, wer so im Laufe ihres Lebens mit ihnen gesprochen hat, helfen, die Botschaften des inneren Kritikers als gelernte Aussagen bestimmter Menschen zu entlarven. Interesse für familiengeschichtliche und Herkunfts-Kontexte sowie Diskriminierungserfahrungen helfen, sich der transgenerationalen und politischen Bezüge der eigenen Selbstkritik bewusst zu werden.
  • Eine Aufstellung gibt gleichzeitig die Möglichkeit, andere Personen oder Anteile zu finden, die Helfer*innen und Unterstützer*innen sein können, wenn der Innere Kritiker die Stimme erhebt. Wen hätte sich der/die Klient*in als innere Anwältin/inneren Anwalt gewünscht? Wer könnte heute hilfreich sein? Wer würde für ihn/sie mit welchen Argumenten Partei ergreifen?
  • Aus hypnosystemischer Perspektive ist es interessant, den/die Klient*in zu fragen, wo der innere Kritiker für ihn steht? Vor ihm? Seitlich? Hinter ihm? Wie groß ist er? Mit welcher Stimme spricht er? In einem nächsten Schritt kann nun der Klient/die Klient*in ausprobieren: Was wäre ein besserer Platz? Wie wäre es, wenn der innere Kritiker leiser oder lauter, höher oder tiefer spricht? Wie wäre es, wenn er seine Kritik singen würde? All dies verdeutlicht dem Klient/der Klient*in, dass er/sie es ist, der dem inneren Kritiker seinen Platz zuweist. Er/sie kann ihn groß oder klein machen. Ihm glauben oder nicht.
  • Es geht darum, Klient*innen zu verdeutlichen: Dass sie für sich selbst Partei ergreifen, müssen sie sich nicht verdienen. Sie haben das Recht auf ihr eigenes Wohlwollen – egal, welche Fehler sie begehen. Es geht um eine grundlegende Entscheidung „Ich bin zukünftig auf meiner eigenen Seite. Egal, was ich tue. Egal, wer mich kritisiert.“ Das heißt nicht, sich selbst gegenüber gänzlich kritiklos zu sein. Es bedeutet, sich innerlich nicht mehr zu verlassen. Es bedeutet, die eigenen guten Gründe für ein Verhalten immer in Rechnung zu tragen. Es bedeutet, das zu tun, was liebende Bezugspersonen hätten tun sollen: Die Idee fest zu verankern, OK zu sein.
  • Wenn jemand Kritik übt, ist es oft hilfreich, Menschen von außen zu haben, die liebevoll auf den/die Klient*in schauen. Das könnt zunächst Ihr als Beratende sein – und es ist gut, mit den Klient*innen gemeinsam zu schauen, wer sie in ihrem Umfeld unterstützt, wer wie reagiert, wenn wirklich ein Fehler passiert. Es hilft, mit ihnen gemeinsam zu sortieren, was an Kritik vielleicht berechtigt ist und was nicht. Damit sie lernen, selbst dann, wenn nicht alles perfekt läuft, nicht gegen sich selbst zu sein.
  • Unterstützen könnt Ihr Klient*innen bei einem achtsamen Gewahrwerden: Wie sprechen sie mit sich selbst? Was sagen sie zu sich, wenn ihnen etwas misslingt? Wenn sie es gerade schwer haben? Wie sprechen sie mit sich, wenn sie gerade etwas Neues und Heikles tun? Wie unterstützend und liebevoll sind ihre Selbstgespräche?
    Für Eltern ist es oft hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, wie sie selbst auf ihre Kinder schauen. Würden sie bewusst so mit anderen sprechen, wie sie mit sich selbst sprechen? In der Regel nicht.

Ein moppeliger innerer Kritiker will überzeugt werden, dass er seine Wächter-Funktion lockerer handhaben kann. Er verschwindet nicht wieder. Aber man kann lernen, ihm im eigenen Innenleben einen verträglicheren Platz zu geben.

Astrid Hochbahn